Binge Eating Disorder: Heißhunger als seelischer Hilferuf

©panthermedia.net, Arne Trautmann

Essen stillt den Hunger und bereitet Genuss. Außer es muss als dauernder Seelentrost dienen. Dann wird es zur Sucht, die nur schwer in den Griff zu bekommen ist.

Dick gilt in unserem Kulturkreis nicht als chic. Trotzdem steigt auch hierzulande der Anteil an fettleibigen Menschen stetig. Der Überfluss an leicht verfügbaren Nahrungsmitteln – oft gepaart mit chronischem Bewegungsmangel – ist nur ein Grund, dass die Bevölkerung immer schwerer wiegt. Ein anderer liegt in der Tatsache, dass eine Essstörung namens Binge-Eating-Disorder (BED; engl. binge = Gelage; Esssucht) im wahrsten Sinn des Wortes zunimmt. Ihr Leitsymptom lautet Essanfälle, die sich der Kontrolle der Betroffenen entziehen.

Übergewichtig oder esssüchtig?

Die Kilos auf der Waage allein entscheiden nicht, ob jemand “nur“ unter Übergewicht bzw. Fettleibigkeit (Adipositas) oder doch an Binge Eating Disorder leidet, auch wenn die Essstörung häufig eine Gewichtszunahme mit sich bringt. Im Gegensatz zu “normalen Schlemmern“ zeigen Esssüchtige ein charakteristisches Essverhalten. Sie …

  • essen bei den Heißhungeranfällen deutlich rascher als üblich.
  • verschlingen ohne hungrig zu sein große Mengen an Nahrung.
  • essen so lange, bis sie sich unangenehm voll fühlen.
  • durchleben die Essattacken infolge verschiedener Gefühlszustände. Die Essanfälle dienen einer gewissen Spannungsabfuhr oder auch Stimmungsaufhellung.
  • essen allein, weil sie sich wegen ihrer Essgewohnheiten (viel und schnell) schämen.
  • fühlen sich nach den Heißhungerattacken von sich selbst abgestoßen, schuldig oder auch deprimiert.
  • betreiben im Gegensatz zu Mager- und Ess-Brech-Süchtigen in der Regel keine schädlichen gewichtsregulierenden Maßnahmen wie etwa einen Missbrauch von abführenden oder harntreibenden Mitteln.

Multifaktorielle Entstehung

Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen und belastenden Ereignissen sowie ein unzureichend entwickeltes Selbstwertgefühl und fehlende Selbstakzeptanz dürften den psychischen Hintergrund für die Entstehung der Binge Eating Disorder bilden. Zu den Auslösern von Essanfällen gehören z.B. reale oder subjektiv empfundene Konflikte, abfällige Bemerkungen übers Aussehen, Einsamkeit, Langeweile, Stimmungsschwankungen, Stress, starke Gefühlsregungen (Ärger, Wut, Trauer, Freude) usw. Als physiologische Grundlage der Essstörung wird eine Dysbalance im “Belohnungssystem des Gehirns“ angenommen.

Auffällig bei Binge Eatern ist eine veränderte Wahrnehmung des Hunger- und Sättigungsgefühls sowie des eigenen Körpers (Körperschemastörung), außerdem ein ständiges Kreisen der Gedanken um Essen, Figur und Gewicht. Sie stammen häufig aus Familien mit pathologischer Struktur (starke Betonung auf Leistung, verdeckte Konflikte, mangelhafte Unterstützung bei Problembewältigung, Defizite in der Abgrenzung und Loslösung). Wie bei anderen Essstörungen auch spielt außerdem das gesellschaftliche Schönheitsideal, das unbedingt Schlankheit einfordert, eine nicht unbedeutende Rolle.

Mehr als nur Wohlstandsspeck

Die Esssucht tritt häufig gemeinsam mit krankhaften Angstzuständen und Depressionen oder auch anderen Abhängigkeiten (Alkohol, Medikamente, Drogen) auf. Neben seelischen und sozialen Schwierigkeiten erzeugt die Binge Eating Disorder oft Übergewicht und begünstigt damit die Entstehung von Stoffwechselkrankheiten (z.B. Diabetes, hoher Cholesterinspiegel), Herz- und Kreislaufleiden (z.B. Bluthochdruck), Erkrankungen des Bewegungsapparates (z.B. Arthrosen), bestimmten Krebsformen u.a.m.

Den Lebenshunger stillen

Essstörungen sind keine einfach durch “richtiges“ Essen bewältigbare Ernährungsstörungen, sondern basieren mindestens teilweise auf psychischen Problemen. Daher lautet die Therapie der Wahl auch bei der Esssucht Beratung, Psychotherapie und Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen. Fachkundige Ernährungsempfehlungen, Abnehmen und Sport spielen bei ihrer Behandlung eine eher untergeordnete Rolle, denn für Binge Eater ist in erster Linie wichtig zu lernen, mit Emotionen konstruktiver, d.h. nicht selbstschädigend, umzugehen. Damit sie ihre innere Leere nicht mehr mit Essen füllen müssen.

 

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Selbsttest – „Bin ich esssüchtig?“
Beratungsstellen für Binge Eating Disorder / Esssüchtige in Österreich

 

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