Medikamente: warum sie im Alter anders wirken

Senioren brauchen aufgrund einer höheren Krankheitsrate in der Regel mehr und öfter Medikamente als junge Menschen, doch sie reagieren unter Umständen anders als erwartet darauf. Warum das so ist, hat vielfältige Ursachen. Daher gehören Arzneimittelverordnungen in fachkundige ärztliche Hände, denn es gilt: Was dem einen nützt, kann dem anderen schaden. Davon verraten auch so manche Beipacktexte nichts.
Für betagte Menschen werden Medikamente oft zu ständigen Begleitern, jedoch nicht immer zu echten Helfern. Denn einerseits können sie unerwünschte Nebenwirkungen haben, was allerdings auch bei jüngeren Menschen zutrifft. Und ebenso missliebige Wechselwirkungen, weil meist mehrere Arzneien zu schlucken sind. Andererseits folgt z.B. der Stoffwechsel von Senioren anderen Gesetzen als der von jüngeren Erwachsenen, was sich in einer veränderten Medikamentenwirkung ausdrücken kann. Bis hin, dass einige Medikamente paradoxerweise das Gegenteil bewirken von dem, was sie erreichen sollen (z.B. Beruhigungsmittel, die aufputschen statt entspannen). Mit solchen speziellen Gegebenheiten der Arzneimittelanwendung im Alter beschäftigt sich inzwischen ein spezieller Zweig der Medikamentenlehre, die Gerontopharmakologie (griech.: géron = Greis, phármakon = Mittel, Stoff). Fazit: Was guttut in der Jugend, muss nicht unbedingt guttun im Alter.
Arzneimittel: was ihre Wirkungen beeinflusst
Jedes Arzneimittel unterliegt im Organismus verschiedenen Prozessen: Es wird
- aufgenommen (Absorption, Resorption), z.B. im Darm
- im Körper verteilt (Distribution), z.B. über das Blut
- um- oder abgebaut (Metabolisierung), meist in der Leber
- ausgeschieden (Exkretion), häufig über die Nieren
All diese Schritte, wie ein Medikament im Organismus verarbeitet wird, bezeichnet man als Pharmakokinetik. Nun werden im Allgemeinen pharmakokinetische Studien eher an jungen Erwachsenen gemacht, die jedoch erhebliche Unterschiede zu Senioren aufweisen können. Hier zeigt sich schon, dass Forschung und Praxis unterschiedlichen Bedingungen gehorchen können.
Im Gegensatz zur Pharmakokinetik gibt die Pharmakodynamik Auskunft darüber, auf welche Weise eine Arznei wirkt sowie die biochemischen bzw. physiologischen Vorgänge im Körper beeinflusst. Die Kenntnis der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik eines Wirkstoffs ist erforderlich zur Erstellung seines Wirkprofils.
Warum Arzneimittel im Alter anders wirken (können)
Nun bringt der Alterungsprozess mit sich, dass sich beide – die Pharmakokinetik und die Pharmakodynamik –und damit die Effekte von Wirkstoffen verändern. Gründe dafür sind
- Beeinträchtigungen der Resorption von Substanzen im Magen-Darm-Trakt, etwa weil einige aktive Transportprozesse an Effizienz verlieren, was sich beispielsweise in einer verminderten Aufnahme von Kohlenhydraten, Aminosäuren, Calcium, Eisen und Vitamin B1 niederschlägt. Oder weil der pH-Wert des Magens im Alter ansteigt, was die Löslichkeit von basischen Arzneistoffen verringert. Und weil weniger Verdauungssäfte gebildet werden, sich die Magenentleerung verzögert, die Darmmotilität und auch die Darmdurchblutung abnimmt. Zudem leisten eventuelle krankhafte (z.B. Malabsorptionssyndrome) oder chirurgische (Magenresektion) Veränderungen des Verdauungstrakts Resorptionsproblemen Vorschub.
- Veränderungen der Verteilung von Arzneistoffen im Organismus aufgrund eines Wandels der Körperzusammensetzung. So haben ältere Menschen einen höheren Anteil an Körperfett bei verringertem Anteil an Gesamtkörperwasser (v.a. die Extrazellulärflüssigkeit nimmt ab). Das hat zur Folge, dass der Wirkstoffspiegel (Konzentration eines Wirkstoffs im Blut) hydrophiler (wasserlöslicher) Arzneien (z.B. das Herzmittel Digoxin), die sich nicht im Fettgewebe verteilen, höher ist als bei jungen Menschen (vermindertes Verteilungsvolumen) und rascher eine toxische Konzentration erreichen kann. Bei lipophilen (fettlöslichen) Substanzen (z.B. das Beruhigungsmittel Diazepam), die sich vor allem im Fettgewebe verteilen, läuft es umgekehrt: Ihr Verteilungsvolumen nimmt zu, ihre Plasmakonzentration ab, weshalb sie im Alter langsamer ausgeschieden werden. Somit können Medikamente im Alter – je nachdem, ob sie fett- oder wasserlöslich sind – schwächer oder stärker wirken als “normal“.
- eine veränderte Zusammensetzung der Plasmaproteine im Zusammenhang mit Krankheiten, v.a. eine Abnahme der Konzentration von Albumin, das viele Medikamente bindet. Das hat zur Folge, dass sich die ungebundene (aktive) Fraktion dieser Medikamente (z.B. Antiepileptika wie Phenytoin oder Valproinsäure) erhöht, was einer Überdosierung gleichkommt. Bei chronischen Krankheiten steigt oft die Konzentrationen von saurem a1-Glykoprotein, das auch viele Medikamente bindet und daher in diesem Fall zu einer Abnahme der aktiven Arzneimittelfraktion führt, was einer Unterdosierung entspricht.
- nachlassende Stoffwechselaktivitäten und Organfunktionen (z.B. der Leber, Nieren), die dazu führen, dass Medikamente (z.B. Benzodiazepine = Beruhigungsmittel) langsamer abgebaut und/oder ausgeschieden werden und daher ein hoher Wirkstoffspiegel über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt.
- ein verminderter Blutfluss zu den Organen (z.B. bei Herzschwäche), sodass Arzneien nicht so schnell zu den Organen gelangen oder auch in der Leber nicht so effizient abgebaut werden.
- potentiell empfindlichere Reaktionen des Körpers auf manche Wirkstoffe, sodass das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen steigt.
- Anwendungsprobleme von Arzneien wie z.B. Einnahmefehler, etwa infolge komplizierter Einnahmeschemata oder Dosierungsanweisungen, körperlicher Probleme bei der Einnahme wie z.B. Sehstörungen, Verwechslungen oder Vergesslichkeit. Zudem Schluckbeschwerden, die viele Senioren plagen und – so sie nicht genug nachtrinken – die Gefahr bergen, dass Tabletten oder Kapseln (v.a. Bisphosphonate, Tetrazykline, Penicilline, nichtsteroidale Antiphlogistika) in der Speiseröhre hängen und deshalb unwirksam bleiben. Das kann schlimmstenfalls sogar mit Schäden an der Speiseröhre wie z.B. Drucknekrosen (durch Druck bedingtes Absterben von Gewebe) einhergehen.
Wie Senioren der “Arzneimittelfalle“ entkommen
Etliche Faktoren, die zu veränderten Medikamentenwirkungen im Alter beitragen sind also bekannt. Was liegt da näher als sie zu beseitigen oder wenigstens ärztlich zu berücksichtigen? Etwa bei der Wahl der Arzneiformen. Wenn das Schlucken von Tabletten oder Kapseln Probleme bereitet oder eine Bettlägerigkeit besteht, dann sind vielleicht flüssige Darreichungsformen wie z.B. Tropfen oder im Mund zerfallende, schnell lösliche Arzneien die bessere Wahl. Auch lassen sich manche Tabletten zerkleinern oder Kapseln öffnen und damit leichter schlucken. Hierbei ist jedoch Rücksprache mit dem Arzt oder Apotheker angebracht, denn nicht bei allen Präparaten ist das ratsam, weil manche dadurch an Wirksamkeit einbüßen. Oft fehlt es aber auch nur einfach an der notwendigen Flüssigkeit (mindestens 100 ml, am besten Wasser), mit der feste Medikamente hinuntergespült werden sollen. Oder an der richtigen Position beim Einnehmen: am besten im Stehen, jedenfalls aber mit erhobenem Oberkörper.
Anderes Beispiel: Da aufgrund der nachlassenden Magensäureproduktion und des verlangsamten Transports im Darm im Alter Medikamente länger brauchen, um in die Blutbahn zu gelangen, tritt deren Wirkung oft erst verspätet ein. Dieses Problem lässt sich durch eine individuelle Dosisanpassung lösen. Am besten nach dem Prinzip “start low and go slow“ (niedrigdosiert beginnen, langsam steigern) und durch die Bevorzugung von Arzneien mit kurzer Halbwertszeit. Oder auch durch die Wahl von Anwendungsformen, die unabhängiger sind von der Funktion des Magen-Darm-Trakts als Tabletten wie z.B. Tropfen, bei denen ein Teil des Wirkstoffs über die Mundschleimhaut aufgenommen wird oder Injektionen, durch die der Wirkstoff unmittelbar in die Blutbahn gelangt.
Noch ein Exempel: Körperliche oder auch geistige Hemmnisse bezüglich der richtigen Medikamenteneinnahme können häufig durch Hilfsmittel wettgemacht werden, z.B. in Form von Tablettenboxen mit Wochentagsbezeichnung und Sortierung (morgens/mittags/abends/nachts) für Vergessliche oder Pillendosen mit Blindenschrift für Sehbehinderte.
Priscus-Liste: Sicherheit geht vor
Am häufigsten nehmen Senioren Psychopharmaka (z.B. Schlaf- und Beruhigungsmittel, Antidepressiva), Schmerzmittel bzw. Entzündungshemmer und Herz-Kreislauf-Medikamente (z.B. Blutdrucksenker, Entwässerungsmittel, Digitalispräparate). Das haben Wissenschaftler erforscht und daraus eine Liste mit jenen Wirkstoffen erstellt, die für ältere Menschen gefährlich werden können. Diese Priscus-Liste (lat.: priscus = altehrwürdig) enthält 18 Arzneistoffklassen mit 83 Arzneistoffen, beispielsweise Antibiotika, Schmerzmittel, Antidepressiva oder Beruhigungsmittel inklusive unbedenklicherer Alternativen. So wird etwa Senioren empfohlen, statt Ibuprofen, das mit einem hohen Blutungsrisiko im Magen-Darm-Trakt verbunden ist, Schmerzmittel wie Paracetamol oder schwach wirksame Opioide zu verwenden.
Weiterführender Link:
Priscus-Liste
Datum: 18. November 2016
Kategorien: Medikamente, Senioren