Scheidungskinder: auf der Schattenseite des Lebens?
Auch wenn es schmerzt, kann eine Scheidung bzw. Trennung die beste Lösung für unüberwindbare Differenzen eines Paares sein. Sind Kinder im Spiel, wird die Sache aber kompliziert, denn der Nachwuchs kommt mit der veränderten Situation oft nur schwer zurecht.
Vater, Mutter, Kind – diese tragende Säule der Gesellschaft namens Familie hat heute in unserem Kulturkreis ein anderes Gesicht als noch vor einigen Jahrzehnten. Allein erziehende Mütter oder auch Väter sind nun an der Tagesordnung, Patchworkfamilien und Lebensabschnitts- anstelle von Lebenspartnern. Statt der Tod trennt viele Ehen der Scheidungsrichter. Auf der Strecke bleiben dabei häufig die Kinder.
Äußere Veränderungen
Die Unterschrift auf der Scheidungsurkunde besiegelt einen Schlusspunkt. Aus mehr oder minder reiflich überlegten Gründen ist ein Paar zu der Einsicht gekommen, nicht mehr miteinander leben zu können oder wollen. Gleichzeitig bedeutet diese Handlung einen Neuanfang – und zwar für alle Beteiligten. Aus einem Paar werden, sofern sich keiner der beiden bereits einen anderen Partner angelacht hat, zwei Singles, aus ihren Kindern Scheidungswaisen.
Etwa jede zweite Ehe endet hierzulande vor dem Scheidungsrichter. Paare ohne Trauschein bleiben ebenso wenig lebenslang zusammen, auch wenn ihrer Verbindung Kinder entstammen. Sie ersparen sich zwar amtliche Schritte, wenn sie auseinandergehen. Was gleich bleibt, egal ob eine Heirat stattgefunden hat oder nicht ist aber, dass bei einer Trennung nie nur die Erwachsenen leiden, sondern vor allem auch der Nachwuchs. Selbst dann, wenn schlimme Streitigkeiten oder gar Gewalttätigkeiten den Alltag bestimmten. Die Kinder sind schon allein deshalb schwer im Nachteil, weil sie die elterliche Trennung nicht verhindern können, auch wenn Mutter und Vater lange überlegt haben mögen, nicht doch “wegen der Kinder“ zusammen zu bleiben oder ihre Sprösslinge vielleicht Strategien ausgeheckt haben, eine Scheidung zu verhindern.
Jedenfalls bedeutet eine Trennung oft Umwälzungen in den Lebensbedingungen der Kinder. Dazu kann ein notwendiger Wohnungs- und/oder Schulwechsel, ev. inklusive Änderung des Wohnortes und Verlust des Freundeskreises gehören, finanzielle Probleme und damit Einbußen am gewohnten Lebensstandard usw. Selbst wenn solche materiellen und sozialen Veränderungen ausbleiben, eines ist sicher: Mutter und Vater leben (zumindest meistens) nicht mehr unter einem Dach. Das gerichtlich zugesprochene Sorgerecht entscheidet, wer von beiden den Aufenthaltsort der Kinder u.v.a.m. bestimmt. Häufig sieht der Nachwuchs nicht mehr jeden Tag beide Eltern, sondern das Besuchsrecht regelt, wann Kontakt mit dem Elternteil, bei dem er nicht lebt, stattfindet.
Innere Veränderungen
Gravierender als die äußeren Veränderungen sind jedoch meist die Auswirkungen einer Trennung der Eltern aufs Seelenleben der Kinder. Besonders in der sogenannten Krisenperiode, d.h. den ersten zwei Jahren nach der Scheidung. Denn wird aus dem Ehepaar “nur noch“ ein Elternpaar, bedeutet das einen hohen Grad von Unsicherheit für die Kinder. Sie fürchten, dass ihnen der “weggegangene“ Elternteil nicht mehr zur Verfügung steht und merken, wenn es für den mit ihnen lebenden Elternteil eine Herausforderung darstellt, ihnen Kontakt mit dem anderen zuzugestehen. Existenzängste stellen sich ein, Gefühle von Hilflosigkeit, (Mit)Schuld, Verlassenheit, Wut und Trauer. Der Selbstwert leidet. In dieser Krise benötigen Kinder vorrangig zwei Dinge: eine intensive emotionale Unterstützung und eine zumindest einigermaßen verlässliche Alltagsroutine.
Steht eine Scheidung ins Haus, heißt das für Kinder also ein Durchleben schwieriger innerer Prozesse zur Bewältigung dieser schwerwiegenden Veränderung, die sich in sieben Stufen gliedern lassen:
Anerkennung und Verstehen: Es ist wichtig, dass Kinder eine wirklichkeitsnahe Vorstellung von einer Scheidung und ihren Folgen bekommen. Dazu dienen das Einholen von Informationen und Auseinanderhalten von angstbesetzten Vorstellungen (z.B. endgültiger Verlust eines Elternteils) von realen Auswirkungen, wobei ein wirkliches Verständnis für die elterliche Trennung oft erst später – meist in der Pubertät eintritt, wenn sich die Fähigkeit, die elterlichen Trennungsmotive in Betracht zu ziehen, heranbildet. Und mögliche positive Aspekte der Veränderung wie z.B. das Ende elterlicher Streitigkeiten, zwei eigene Zimmer – eines bei Mama, eines bei Papa etc. – zu schätzen wissen.
Rückkehr zum eigenen Lebensstil und Gewohnheiten: Der Trennungs- bzw. Scheidungsprozess darf nicht im ausschließlichen Mittelpunkt der kindlichen Gedankenwelt bleiben, sondern vielmehr die kindlichen Bedürfnisse. Eine ehebaldige Normalisierung des Alltagslebens ist anzustreben.
Verarbeitung der Verlust-, Ablehnungs- und Schuldgefühle: Haben Kinder keine “richtige“ Familie mehr, erleben viele das als Minderwertigkeit und eigenes Verschulden. Dann ist es wichtig, dass sie lernen, nicht dafür verantwortlich zu sein und erleben, von beiden Elternteilen nach wie vor geliebt zu werden sowie dass verschiedene Lebensformen (z.B. alleinerziehende Eltern) gleichwertig sind.
Umgang mit Zorn: Auch wenn Kinder die unangenehme und zugleich folgenreiche Situation nicht selbst herbeigeführt haben, können sie kaum etwas gegen die Trennung tun, was verständlicherweise Wut auslöst. Sie haben aber oft Schwierigkeiten, den Zorn auszudrücken, möchten sie doch ihre Eltern nicht belasten und die Beziehung zu ihnen nicht gefährden, weshalb viele glauben, besonders “brav“ sein zu müssen. Dann brauchen sie Hilfe, um ihre – durchaus berechtigte – Wut äußern zu lernen, ohne fürchten zu müssen, dadurch die Zuwendung der Eltern zu verlieren.
Aussöhnung mit den Eltern: Damit auch kleine Kinder, die eine Trennung häufig als gegen sich gerichtet erleben, Wut und Zorn auf die Eltern überwinden können, ist es wichtig, partnerschaftliche Konflikte nicht auf ihrem Rücken auszutragen, etwa durch das Verbünden eines Elternteils mit dem Kind/den Kindern gegen den anderen Elternteil. Und: Versöhnung braucht Zeit:
Akzeptanz der Dauerhaftigkeit der Trennung: Normalität kann nur dann einkehren, wenn es allen Beteiligten gelingt, die Trennung als endgültig zu akzeptieren, wozu jeder unterschiedlich viel Zeit braucht. Fatal für Kinder ist es, wenn etwaige Phantasien, die Eltern könnten doch wieder zusammenkommen, dadurch – vergeblich – genährt werden, dass ein Elternteil die Trennung nicht akzeptieren kann oder gar versucht, den anderen zurückzugewinnen.
Lebenslang Nachteile?
Untersuchungen sprechen eine klare Sprache: Scheidungskinder haben gegenüber Nachwuchs aus intakten Ehen mit einer Reihe von Nachteilen zu rechnen. Dazu gehören Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, der Selbstsicherheit, Lebensfreude und Vitalität, eine größere Anfälligkeit für körperliche und seelische Störungen, häufigere Unzufriedenheit und Depressionen. Vor allem aber weisen sie später eine deutlich erhöhte Scheidungsrate auf, die in Beziehungsproblemen, einer ambivalenten Einstellung zu Ehe und Elternschaft sowie Ängsten, genau solche Erfahrungen zu machen wie ihre Eltern wurzeln. Sie haben oft Probleme mit Nähe und Vertrauen, leiden unter Zweifeln, Wut und Überempfindlichkeiten. Zudem genießen sie im Schnitt eine minder gute Ausbildung und landen öfter in weniger angesehenen Berufen. Sie übernehmen mehr Verantwortlichkeiten, manchmal auch zu viele oder nicht altersgerechte. Bis hin zur Überforderung oder gar zum Rollentausch mit einem Elternteil.
Entschärfung der Situation
Wollen scheidungswillige Eltern ihren Kindern helfen, die schwierige Zeit zu überstehen und ihnen lebenslang prägende negative Folgen der Trennung weitgehend ersparen, sollten sie ihnen folgendes bieten:
- eine gute Beziehung zu beiden Elternteilen
- häufige Besuche bei und Telefonate mit dem Elternteil, der getrennt von den Kindern lebt
- Unterstützung der Kinder seitens Verwandter (z.B. Großeltern) oder Freunde
- das Heraushalten der Kinder aus dem Konflikt zwischen den Eltern
- den Besuch von Selbsthilfegruppen, u.a. um das Gefühl der Isolierung und Stigmatisierung zu überwinden und mit Wut und Zorn umgehen zu lernen
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Datum: 29. September 2014
Kategorien: Kindergesundheit, Psyche & Nerven