Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: grausame Fürsorge
Ein Kind absichtlich quälen, damit es krank wird und ins Spital kommt. Was absurd anmutet, ist für den Nachwuchs einer Mutter mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom trauriger Alltag. Warum sie das tut? Weil sie selbst krank ist, schwer psychisch krank.
Es klingt zu schrecklich, um wahr zu sein und doch gibt es sie – Menschen mit einer so schweren psychischen Störung, dass sie anscheinend ihr Kind krankenhausreif quälen müssen, um selbst seelisch überleben zu können. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen-by-proxy-Syndrom, erweitertes Münchhausen-Syndrom, Münchhausen in Vertretung, MBPS) nennen Fachleute dieses grausame Phänomen, das überwiegend bei Frauen, meist Müttern, auftritt.
Die besonders schlimme Form von Kindesmisshandlung mit für das Kind schwerwiegenden körperlichen und seelischen Langzeitfolgen oder sogar tödlichem Ausgang wird oft lange nicht erkannt, denn die Verursacherinnen geben sich besonders fürsorglich, aufopfernd und beschützend.
Spezialform des Münchhausen-Syndroms
Menschen mit Münchhausen-Syndrom täuschen Krankheiten vor oder beeinträchtigen ihren Gesundheitszustand, um Klinikaufenthalte und damit Zuwendung zu erhalten. Ähnliches tun auch die mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom – allerdings mit dem Unterschied, dass sie solche Manöver nicht bei sich selbst, sondern bei jemand anderem – in der Regel ihrem Kind – ausführen, damit es quasi als “Stellvertreter“ ins Spital aufgenommen wird. Viel seltener muss ein Erwachsener diesen Zweck (Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom) erfüllen.
Die Methoden auf dem Weg zum Ziel sind jedenfalls die gleichen. So werden zunächst Symptome erfunden oder dramatisiert, später Messdaten (z.B. Fieberkurven) gefälscht und Laborbefunde (z.B. Blut- oder Zuckerbeimengung zum Urin) manipuliert, schließlich schädigende Handlungen am Kind vorgenommen wie z.B. Arzneimittel (z.B. Abführmittel, um Durchfall zu provozieren) zur künstlichen Erzeugung von Symptomen missbraucht, aber auch direkte Verletzungen gesetzt. Vieles davon geschieht in häuslicher Abgeschiedenheit. Doch auch im Krankenhaus ist das Kind nicht automatisch vor den mütterlichen Torturen sicher, wie Videoüberwachungen in englischen Kliniken zeigen.
Heimliche Horrorszenarien
Was Mütter mit dieser Störung ihrem Kind alles antun, damit es im Krankenhaus landet, könnte gut und gerne einem Thriller entstammen. Sie zertrümmern Knochen, quetschen oder verbrühen Gliedmaßen, streuen Schmutz in bestehende Wunden und vieles andere mehr, das man sich gar nicht vorstellen will. Damit provozieren sie diverse medizinische Maßnahmen bis hin zu Operationen.
Wenig überraschend findet man sie regelmäßig in verschiedenen Kliniken, wo sie aufwendige Untersuchungen und Behandlungen an ihrem Kind einfordern, manchmal sogar auf unnötige Eingriffe drängen. Dabei mag ihre Überfürsorglichkeit auffallen, doch die präsentierten Beschwerden oder Verletzungen lassen sich entweder plausibel erklären oder sind gängige unspezifische Krankheitszeichen wie z.B. Magenschmerzen oder Hautausschläge, die kaum Aufsehen erregen. Selbst wenn sie keine schlüssige Ursache für die angegebenen oder offensichtlichen Symptome eruieren können, schöpfen Mediziner in der Regel noch keinen Verdacht, dass hier böse Mächte am Werk sind, denn längst nicht alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen lassen sich eindeutig einem Auslöser zuordnen. Deshalb erfordert die Entlarvung eines Münchhausen-Stellvertretersyndroms geradezu detektivische Nachforschungen.
Diskrete Auffälligkeiten
Den Verdacht auf ein mögliches Münchhausen-Stellvertretersyndrom lenken können Umstände wie
- eine hohe Anzahl an Krankenhausaufenthalten eines Kindes (in verschiedenen Spitälern)
- eine ständig wechselnde und beliebige Symptomatik des Kindes
- nachdrückliche mütterliche Ermunterungen ans Kind, die von ihr geschilderten Symptome zu bestätigen
- ein forderndes und schonungsloses Drängen der Mutter auf – v.a. auch invasive – Diagnostik- und/oder Therapie-Maßnahmen ohne Rücksicht auf kindliche Angst oder Schmerzen
- eine sonderbare Bereitschaft des Kindes, medizinische Prozeduren, selbst wenn sie schmerzhaft sind, geduldig über sich ergehen zu lassen, hat sie die Mutter in die Wege geleitet
- ein ungewöhnlich enges, von Überfürsorglichkeit (z.B. Tag und Nacht am Krankenbett wachen) geprägtes Mutter-Kind-Verhältnis
- vor allem aber die rasche Besserung der Beschwerden während des Spitalsaufenthaltes respektive nach Trennung des Kindes von seiner heimlichen Peinigerin (immer wieder “Symptome nur zuhause“)
Abgesehen davon freundet sich eine Münchhausen-Mutter oft rasch mit dem Pflegepersonal an, unterstützt es bei seinen Aufgaben und empfindet sich als Teil des medizinischen Teams, das dem Kind nur Gutes tun möchte. Es ist durchaus möglich, dass sie selbst im Gesundheitswesen arbeitet oder selbiges vorgibt, zumindest aber über reichlich medizinisches Wissen verfügt, sodass es ihr nicht schwerfällt, Krankheiten vorzutäuschen.
Kind als Objekt
Was treibt eine Frau dazu, so unvorstellbar grausam mit ihrem Kind umzugehen? Warum fehlt es hier an Mitleid? Weil sie anscheinend ihr Kind nicht als eigenständigen Menschen wahrnehmen kann, sondern sich in krankhafter Weise mit ihm identifiziert. Sie leidet unter einem Münchhausen-Syndrom, also dem inneren Drang, Krankheitszeichen zu provozieren, um Aufmerksamkeit zu erlangen, das sie aber aufs Kind, das sie ja als Teil von sich selbst erlebt, überträgt. Um seelisch nicht zu dekompensieren, delegiert sie die für sie psychisch notwendige “Aufgabe, krank zu sein“ ans Kind.
Was gewinnt nun eine Münchhausen-Mutter bei dem unseligen Kreislauf “Kind krank machen, um es dann gesund zu pflegen“? Einerseits Zuwendung und Anerkennung von der Außenwelt für ihre aufopfernde Fürsorge, andererseits eine Art Einzigartigkeitsgefühl, dass nur sie allein dem Kind diese Fürsorge geben kann, womit sie ihre Minderwertigkeitskomplexe kompensiert. Gelingt das nicht, etwa weil ihr Treiben entlarvt wird, gerät sie in eine schwere seelische Krise und kann sogar Selbstmord begehen.
Besondere Kennzeichen
Frauen mit MBPS sind überzufällig häufig alleinerziehend oder getrennt lebend und beruflich im Gesundheitswesen tätig. Viele haben selbst einiges an medizinischen Behandlungen hinter sich oder hatten kranke und therapiebedürftige Familienmitglieder (Second-Hand-Münchhausen-by-proxy-Syndrom: frühere Opfer als heutige Täter). Oft waren sie in ihrer Vergangenheit einer schwierigen Familiensituation mit Misstrauen, Feindseligkeit, Empathielosigkeit, Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und sozialer Deprivation ausgesetzt. Nicht zuletzt findet man bei ihnen gehäuft psychische Leiden wie z.B. Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Suchtprobleme u.a.m.
Therapie: schlechte Prognose
Es fehlt an Krankheitseinsicht und Unrechtsbewusstsein. Das ist es, was Menschen mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom unzugänglich macht für professionelle Hilfe. Verhaltenstherapeutische Ansätze können versucht werden, oft sind jedoch psychiatrisch-psychotherapeutische Kriseninterventionen notwendig. Eine vollständige Ausheilung ist kaum zu erwarten.
Priorität: Kinderschutz
Eine abrupte Konfrontation von Menschen mit Münchhausen- Stellvertreter-Syndrom mit den eigenen negativen Handlungen erscheint nicht ratsam. In der Regel leugnen sie sonst vehement die Vorwürfe und brechen den Klinikaufenthalt ab – um bald darauf samt gepeinigtem Kind in einem anderen Spital aufzutauchen. Wird ihr Treiben unterbunden, besteht die Gefahr, dass sie es bei weiteren Kindern fortsetzen (Multiple-Child-Münchhausen-by-proxy-Syndrom).
Trotz allem muss das Kindeswohl im Vordergrund stehen, denn gerade die am häufigsten betroffenen Kleinkinder (Durchschnittsalter der Opfer: dreieinviertel Jahre) sind ihren Müttern machtlos ausgeliefert und die Langzeitfolgen des unglaublichen Verhaltens für die Leidtragenden gravierend: Essstörungen, schwerste Depressionen, Hyperaktivität, Persönlichkeitsstörungen u.v.a.m. inklusive erhöhtem Risiko, selbst ein Münchhausen-Syndrom zu entwickeln sowie schweren schulischen und sozialen Defiziten infolge der häufigen Krankenhausaufenthalte.
Bei begründetem Verdacht auf ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist daher die Erstattung einer Anzeige sowie die Einschaltung des Jugendamts notwendig, um das Kind – z.B. durch Unterbringung in einer Pflegefamilie – aus der misslichen und lebensgefährlichen Lage zu befreien. Nebst einer adäquaten Behandlung seiner ihm zugefügten Verletzungen und Traumatisierungen. Und einer akuten psychiatrisch-psychotherapeutischen Krisenintervention zur Verhinderung mütterlicher Kurzschlusshandlungen.
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Datum: 5. August 2014
Kategorien: Kindergesundheit, Psyche & Nerven