Intersexualität: Leben zwischen den Geschlechtern

Eine Hälfte der Menschheit ist weiblich, die andere männlich. Aber nur fast. Denn es kommen auch zahlreiche Babys zur Welt, die sich nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen lassen. Sie sind Intersexuelle (Hermaphroditen, Zwitter). Ein schwieriges Erbe.
Der Intersexualität (“teilweise männlich, teilweise weiblich“) mit ihren rund 100 Erscheinungsformen liegen Besonderheiten in der Geschlechtsentwicklung (differences/disorders of sex development, DSD) zugrunde, die in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung auftreten.
Genetisches und genitales Geschlecht
Ein bestimmtes Chromosomenpaar (Nr. 23; Gonosomen) im Erbgut legt bereits bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle fest, welchem Geschlecht ein Mensch angehört. Besteht es aus zwei X-Chromosomen (46, XX), handelt es sich um eine Frau, bei einem X- und einem Y-Chromosom (46, XY) um einen Mann (= genetisches bzw. chromosomales Geschlecht). Doch diese Festlegung muss nicht zwangsläufig mit der Entwicklung zugehöriger, zu erwartender innerer und äußerer Geschlechtsmerkmale (z.B. Penis, Hoden und Prostata beim Mann, Vulva, Eierstöcke und Gebärmutter bei der Frau, = genitales Geschlecht), die erst im Verlauf der ersten Schwangerschaftswochen aus einem neutralen Stadium entstehen, einhergehen. Denn deren regelrechte Ausbildung hängt von vielen Faktoren (z.B. Hormoneinwirkungen) ab, die unterschiedlichen Störungen unterliegen können. Genotyp (Erbbild) und Phänotyp (Erscheinungsbild) müssen also nicht (ganz) übereinstimmen.
Zum Teil liegt die Ursache einer abweichenden Geschlechtsdifferenzierung bereits in der Erbmasse. Wie etwa beim Turner-Syndrom (Ullrich-Turner-Syndrom, UTS, Monosomie X), das mit nur einem Geschlechtschromosom (X0; 45, X) oder einem in seiner Struktur fehlerhaften X-Gonosom einhergeht. Da keine Hoden existieren, die vermännlichendes Testosteron erzeugen, bilden sich weibliche äußere Genitalien aus. Da aber auch keine funktionsfähigen Eierstöcke vorhanden sind, sondern sog. Streak-Gonaden (funktionslose degenerierte Keimdrüsen), herrscht Unfruchtbarkeit vor.
Männlich trotz XX
Eine recht häufig vorkommende Störung der Funktion der Nebennierenrinde bewirkt bei genetisch als Mädchen angelegten Babys das Adrenogenitale Syndrom (AGS, CAH = Congenital Adrenal Hyperplasia, Debré-Fibiger-Syndrom), gekennzeichnet durch einen – u. U. lebensgefährlichen – Salzverlust und eine Vermännlichung der äußeren Geschlechtsorgane und unterschiedliche andere maskuline Erscheinungen wie z.B. einen Bartwuchs, weil Störungen der Hormonproduktion einen Überschuss an Androgenen (männliche Hormone) nach sich ziehen (Pseudohermaphroditismus femininus). Knaben mit einem AGS erleben eine Pubertas praecox (verfrühte Pubertät) und einen vorzeitigen Abschluss des Längenwachstums.
Weiblich trotz XY
Das Y-Chromosom steuert normalerweise die Bildung von Hoden (lat.: testis), also den Produzenten der Androgene (männliche Hormone, z.B. Testosteron), die eine Vermännlichung des Embryos bewirken. Fehlt dieses Gonosom oder kann infolge bestimmter Umstände seine Funktionen nicht ausüben, entwickelt sich ein Embryo mit weiblichen Merkmalen. Es findet also eine sogenannte testikuläre Feminisierung (vom Hoden ausgehende Verweiblichung) statt. Mögliche Ursachen eines solchen Pseudo-Hermaphroditismus masculinus sind:
- eine CAIS (Complete Androgen Insensitivity Syndrome, komplette Androgen-Resistenz): vollständige Unempfindlichkeit (Insensibilität) der Gewebe für Androgene (Androgen-Resistenz-Syndrom, AIS). Bei diesem Syndrom entstehen im Embryonalstadium zwar Hoden, die Androgene ausschütten. Doch ihre Andockstellen (Rezeptoren) an den Zielorganen reagieren nicht auf sie, sodass die Zellen die Hormone nicht verwerten können. In der Folge formen sich weibliche äußere Genitalien aus, obwohl die inneren Fortpflanzungsorgane männlich angelegt sind. Denn die – im Bauchraum verbliebenen – Hoden erzeugen auch Östrogene und die produzierten Androgene werden im Organismus zum Teil in Östrogene umgewandelt. Die Scham- und Achselbehaarung fehlt. Ebenso eine Gebärmutter und Eierstöcke, sodass auch keine Monatsblutung auftritt.
- eine PAIS (Partial Androgen Insensitivity Syndrome, partielle Androgenresistenz): teilweise Insensibilität der Gewebe für männliche Hormone. Bei diesem weniger häufig als das CAIS auftretenden Syndrom sind die Hormonrezeptoren teilweise funktionsfähig. Daher bleibt zumindest ein Teil der vermännlichenden Wirkungen der Androgene erhalten, sodass – je nach Ausprägung der Störung – das äußere Erscheinungsbild mehr oder minder männlich ist.
- die fehlende Ausbildung von Hoden aus unterschiedlichen Gründen. Beispielsweise infolge eines Swyer Syndroms (reine Gonadendysgenesie). Seine Ursache liegt in einer fehlenden Aktivität des SRY-Gens, das normalerweise die Ausbildung von Hoden steuert. Statt diesen finden sich Streaks (Bindegewebsstränge), die weder Keimzellen enthalten noch Hormone produzieren. Deshalb entstehen zwar eine Vagina und ein Uterus (Gebärmutter), aber infolge der mangelhaften Hormonproduktion findet keine Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale (Schambehaarung, Brustentwicklung) statt. Eine Hormon-Ersatz-Therapie kann die normalerweise in der Pubertät stattfindende Entwicklung anregen.
- die unterbliebene Entwicklung der Hodenzellen infolge ihrer mangelhaften Reaktion auf Hormone der Hirnanhangdrüse (z.B. Leydig-Zell-Agenesie oder –hypoplasie = LH-Rezeptordefekt), weil z.B. die Andockstellen (Rezeptoren) für diese Hormone (z.B. LH = luteinisierendes Hormon: regt die Testosteronproduktion an) defekt sind.
- Enzymstörungen in der Biosynthese männlicher Hormone (z.B. 5-Alpha-Reductase-Mangel, 17-Beta-HSD-Mangel etc.): Beim 5-Alpha-Reductase-Mangel verläuft die Androgensynthese zwar regelrecht, doch der Enzymmangel in den Zielorganen der Hormone beeinträchtigt deren Wirkung. Ergebnis ist ein zunächst weibliches Erscheinungsbild, das mit Einsetzen der Pubertät einer zunehmenden Vermännlichung (Wachstumsschub, keine Brustentwicklung, maskuline Muskulatur, Stimmbruch, übermäßiges Klitoriswachstum) weicht.
Gonadendysgenesien: Wenn Keimdrüsen nicht funktionieren
In den Gonaden (Keimdrüsen: Hoden bzw. Eierstöcke) findet die Produktion der Sexualhormone (Androgene, Östrogene, Gestagene) und der Keimzellen (Samen- bzw. Eizellen) statt. Fehlen sie oder sind sie fehlentwickelt, spricht man von einer Gonadendysgenesie, die sich in verschiedenen Formen mit unterschiedlicher Auswirkung auf die Geschlechtsentwicklung zeigt. Häufig verbunden mit einem Kleinwuchs und Unfruchtbarkeit. Bei der sog. gemischten Gonadendysgenesie findet sich auf einer Seite eine unterentwickelte Keimdrüse und auf der anderen ein mehr oder minder ausgereifter Hoden. Außerdem ein mehr oder weniger vermännlichtes äußeres Genitale mit phallusähnlicher Klitoris und eine meist ausbleibende Brustentwicklung.
Echte Zwitter
Menschen, die tatsächlich sowohl Eierstock- als auch Hodengewebe besitzen, das gemeinsam (Ovotestis) oder getrennt vorliegen kann, gibt es selten. Als Ursache eines solchen Hermaphroditismus verus (griech. Mythologie: Hermaphroditos, der schöne, aber prüde Sohn von Hermes und Aphrodite, wurde leidenschaftlich von einer Nymphe umarmt, sodass sie zu einem Körper zusammenschmolzen) wird ein Gendefekt (Transposition = Verlagerung des HY-Antigen-Lokus vom Y- auf ein anderes Chromosom?) vermutet. Genetisch findet sich eine XX-, XY- oder XX/XY (Mosaik)-Konstitution. Je nach Hormonproduktion entwickeln sich die äußeren Geschlechtsmerkmale mehr in die weibliche oder männliche Richtung (z.B. Schamlippen & Mischform zwischen Klitoris und Penis).
Therapie: Geschlechtsangleichung
Fehlt eine eindeutige Geschlechtszuordnung (Unisexualität, Monosexualität), finden oft Korrekturen (Hormontherapien, Chirurgie) statt. Bis vor kurzem wurde dabei nicht groß Rücksicht genommen auf die Bedürfnisse der Betroffenen, sondern vielmehr auf elterliche Wünsche bzw. medizinische Belange und schon in den ersten Lebensjahren operiert, wobei eine Geschlechtsangleichung von männlich auf weiblich meist wesentlich einfacher ist als umgekehrt. Heute geht der Trend dahin, damit bis zur Pubertät zuzuwarten, um die Entwicklung der eigenen sexuellen Identität zu ermöglichen. Auch wenn das für Jahre ein “Leben zwischen den Geschlechtern“ bedeutet, was eine Reihe von Problemen nach sich ziehen kann, wovon die oft verlangte, nur zwei Optionen beinhaltende Geschlechtsangabe in amtlichen Papieren wohl noch eines der geringsten ist.
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Datum: 29. April 2014
Kategorien: Männergesundheit, Psyche & Nerven