Depressionen: vom möglichen Nutzen der Schwermut

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Vorübergehende Niedergeschlagenheit, gelegentliche Wehmut oder auch Phasen der Trauer durchleben beinahe unvermeidlich die meisten Menschen. Manche aber gleiten nahtlos vom Winterblues in die Frühjahrsmüdigkeit, das Sommerloch und die Herbstmelancholie. Dann liegt der Verdacht nahe, dass sich eine Depression eingestellt hat. Dieses zur Volkskrankheit avancierte, scheinbar alle Lebensgeister lähmende Seelentief könnte auch sein Gutes haben, sagen manche Forscher.

Fast jeder kennt solche Tage: Man ist wehmütig und nah am Wasser gebaut. Alles erscheint traurig und der Sinn steht einem nicht nach Gesellschaft und Aktivität, sondern eher nach Rückzug, um in der Abgeschiedenheit seinen Gedanken nachzuhängen. So geht Melancholie. Bei intensiverer Ausprägung der genannten Merkmale heißt das Ganze dann Depression. Wie belastend solche Seelentiefs auch sein mögen, in ihnen liegt auch der Keim zur Bewältigung von Lebenskrisen, legen Forschungen nahe.

Werdegang der Melancholie

In vergangenen Jahrhunderten wurden viele Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der vier Lebenssäfte Blut, helle Galle, schwarze Galle und Schleim zurückgeführt. So verstand man den Zustand der Melancholie (griech.: melas = schwarz; cholé = Galle) als ein “Überwiegen der schwarzen Galle“, die einen seelischen Zustand von Schwermut ohne erkennbaren Auslöser bewirkt. Folgerichtig versuchten die damaligen Heilkundigen, diese zu reduzieren, um die Balance zwischen den Lebenssäften wieder herzustellen. Mit Bädern, Bewegung, Musik, Gesprächen, dem Verzicht auf dunkelfarbige Speisen und medizinischen Interventionen (z.B. Aderlass, Abführmittel u.a.m.). Für den Galleüberschuss und die traurige seelische Verfassung verantwortlich gemacht wurden physiognomische (z.B. kleiner Kopf, Dunkelhäutigkeit) und biologische (z.B. höheres Alter, lang andauernde Krankheiten, Abstammung von schwermütigen Eltern) Faktoren ebenso wie soziokulturelle (z.B. Einsamkeit, Inaktivität), umweltmäßige (z.B. Leben in unterkühlten oder überhitzten Klimazonen) und zeitliche (z.B. Nachmittag, Herbst) Gegebenheiten oder gar astrologische Konstellationen (negative Aspekte von Mond, Saturn oder Merkur im Geburtshoroskop). Die christliche Religion verwendete für die Melancholie den Ausdruck Acedia (Trübsinn, Trägheit, “Mönchskrankheit“), setzte sie mit der Tristitia (Traurigkeit) gleich, wertete sie als Ausdruck der Verzweiflung am Heilsplan Gottes und damit als sündhaft.

Im naturwissenschaftlich orientierten Zeitalter der Aufklärung erkannten die Mediziner, dass die Ursache der “schönen Kunst der Kopfhängerei“ im Nervensystem liegt. Und bekämpften sie mit – oft fraglich tauglichen – physikalischen oder chemischen Mitteln wie Aderlässen, Duschen, dem Setzen von Kälte- und Wärmereizen, der Verabreichung von Klistieren oder giftigen Substanzen wie Arsen und Quecksilber, aber auch psychologischen Verfahren zur Beeinflussung der Gefühle. Im 18. Jahrhundert wurde die Melancholie zum Teil mit anderen psychischen Störungen wie Hysterie und Hypochondrie in einen Topf geworfen und mit einer Zunahme der Empfindlichkeit und Leidenschaft aufgrund sozialhistorischer Veränderungen begründet.

Die im 19. und 20. Jahrhundert aufkeimende Psychoanalyse schließlich sah in der Melancholie und der ev. damit verbundenen Selbstmordgefährdung eine tiefe schmerzliche Verstimmung, begleitet von einer Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, einem Verlust der Liebesfähigkeit, der Hemmung jeder Leistung und Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert (Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, 1917). Die moderne Psychiatrie verwendet für ein solches krankhaftes Seelentief nicht mehr den Begriff Melancholie, sondern Bezeichnungen wie depressive Verstimmung oder Depression, die in unterschiedlichen Schweregraden und Ausprägungen auftritt. Doch es gibt auch Stimmen, die Melancholie nicht mit Depressionen gleichsetzen. Zudem existieren verschiedene Erscheinungsformen von Depressionen.

Klassifikation von Depressionen

Das internationale Klassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) unterteilt sie in

  • leichte depressive Episoden (amerikan.: “minor depression“): Es zeigen sich mindestens zwei der drei Hauptsymptome depressive Stimmung, Antriebsmangel und Verlust an Interessen und Freude sowie zwei Zusatzsymptome wie z.B. Schuldgefühle, Appetitmangel, Libidoverlust, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, mangelndes Selbstwertgefühl, pessimistische Zukunftsperspektiven oder Lebensüberdruss.
  • mittelgradig depressive Episoden (amerikan.: “minor depression“): Es liegen zwei Hauptsymptome und mindestens drei, höchstens aber vier weitere Symptome vor.
  • schwere depressive Episoden (amerikan.: “major depression“): Alle drei Hauptsymptome und mindestens vier zusätzliche Symptome treten auf.

Wobei in allen Fällen die Beschwerden länger als zwei Wochen anhalten müssen, um als Depression zu gelten. Diese hat viele Gesichter. Daher erschöpft sich ihre Einteilung nicht in ihren Schweregraden, sondern umfasst Subtypen wie

  • chronische depressive Störungen: Hierzu gehört die Zyklothymie, d.h. in der Regel länger als zwei Jahre andauernde, zahlreiche Episoden unterschwelliger Krankheitszeichen einer leichten depressiven Verstimmung im Wechsel mit symptomfreien bzw. manischen (gehobene Stimmung) Intervallen. Ebenso über mehr als zwei Jahre sich erstreckende, durchgängig depressive Episoden, die oft vergesellschaftet sind mit Substanzmissbrauch, Zwangs-, Ess- oder Persönlichkeitsstörungen, was häufig zusätzliche Behandlungsmaßnahmen erfordert.
  • die melancholische Depression: Im Gegensatz zur nicht-melancholischen Depression, wo die Stimmung zumeist noch anregbar ist, kommt es bei dieser schweren Ausprägung von Depression zur Unfähigkeit, etwas zu fühlen und Lust zu empfinden.
  • die somatisierte Depression: Sie geht mit verschiedenen, unspezifischen körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Herzrasen, Kopfdruck, Verdauungsstörungen u.v.a.m. einher, für die sich keine organische Ursache finden lassen.
  • die saisonal abhängige Depression (SAD): Sie beginnt in mit den lichtarmen Jahreszeiten Herbst und Winter und endet danach. Kennzeichen sind  Lustlosigkeit, Schläfrigkeit, Lethargie und Heißhunger auf Süßigkeiten.
  • postpartale depressive Störungen: Nach einer Entbindung kann es zu psychischen Störungen kommen wie den “Heultagen“ (Baby Blues), einer Stimmungslabilität drei bis fünf Tage nach dem Ereignis. Seltener entwickelt sich in den ersten Wochen nach einer Geburt eine so genannte Wochenbettdepression, die mehrere Monate anhalten kann und notfalls (bei Suizidgefahr) stationär behandelt werden muss. Gelegentlich tritt sogar eine Wochenbettpsychose ein.
  • die psychotische Depression: Bei dieser schweren, langdauernden und rückfallgefährdeten Form von Depression treten zusätzlich psychotische Symptome wie etwa Wahnideen (z.B. Verarmungs- Versündigungswahn) auf.

Depressionen gehen mit einem In-sich-gekehrt-sein, selbstquälerischen untätigen Vor-sich-hinbrüten sowie einer Abkapselung von der Umwelt einher. Sie werden häufig von Angststörungen, dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit bis hin zu Selbstmordgedanken begleitet. Daher erscheint ihre Behandlung (z.B. Antidepressiva, Psychotherapie) geboten.

Seelentiefs als Triebfeder für ein erfüllteres Leben?

Dass schwer depressive oder gar selbstmordgefährdete Menschen dringend fachkundige Hilfe benötigen, steht außer Zweifel. Trotzdem stellt sich die Frage, ob nun gleich jede Phase von Schwermut bekämpft werden muss. Und welchen Sinn solche Gemütszustände generell haben bzw. ob sie nicht auch positive Auswirkungen zeitigen könnten. Zumindest Verfechter der Trennung von Melancholie und Depression (Unterschied: Die Melancholie ist innerhalb von Minuten, Stunden oder Tagen selbstlimitierend) billigen der Melancholie die Fähigkeit zu, frische Kräfte wachsen und neue Ideen reifen zu lassen. Der in melancholischen Phasen stattfindende Rückzug soll für Selbstbesinnung, eine klarere Sicht der Dinge, mehr Sensibilität, Verständnis, Gelassenheit, Ausgeglichenheit und Tiefgang sowie Kreativität sorgen. Somit wäre die Melancholie als Wegweiser zur inneren Mitte und Harmonie eine positive Charaktereigenschaft, die Oberflächlichkeiten und Sinnlosigkeiten menschlichen Strebens entgegenwirkt und so vielleicht sogar zur Weltverbesserung beiträgt.

Was aber kann gut sein am für Depressionen typischen, scheinbar nutzlosen Grübelzwang mit seinen endlosen, immer wieder um dasselbe kreisenden Gedankenschleifen, der Gedächtnisleistungen auffrisst und eine erfolgreiche Alltagsbewältigung zunehmend verunmöglicht? Manche Forscher sehen die mit Selbstvorwürfen gespickten inneren Monologe Depressiver als Folge eines Schicksalsschlags (z.B. Tod des Partners, Arbeitsplatzverlust etc.) bzw. als einen darauffolgenden Trauerprozess, der helfen soll, Beziehungsmuster zu überdenken und soziales Verhalten neu zu bewerten. Somit wäre das Dahinbrüten vielleicht nur eine besonders konsequente Suche nach einem Ausweg aus Lebenskrisen. Das klingt auf den ersten Blick insofern unlogisch, als das ständige Zermartern des Kopfes rund um elementare Probleme auf Kosten bestimmter geistiger Fähigkeiten geht. Doch es zeigt sich, dass für analytisches Denken zuständige Hirnregionen bei Depressiven überaktiv sind, auch wenn das Denken quälend langsam vonstattengeht. Auch andere Untersuchungen (z.B. Wahrnehmung von Gegenständen) belegen, dass schwermütige Menschen akkuratere Urteile fällen als “Normalos“. Trauer soll also zur Analyse komplexer Sachverhalte geeignete informationsverarbeitende Prozesse fördern. Ebenso besteht anscheinend ein Zusammenhang zwischen depressiver Veranlagung und erfolgreichem künstlerischem Schaffen, besagt eine Befragung von Schriftstellern. Nicht wirklich verwunderlich, bedenkt man, dass kreative Arbeiten wie etwa das Herumfeilen an Formulierungen ständig Rückschläge beinhalten und Ausdauer erfordern – ein ebenso mühsames Unterfangen wie depressive Grübelei. Offenbar nimmt die Ausdrucksfähigkeit in depressiven Phasen zu und damit verbundene Versagensängste bringen die Wortwahl auf Vordermann.

 

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