Logophobie & Mutismus: Wenn es Kindern die Sprache verschlägt

Sich sprachlich mitteilen zu müssen – z.B. in der Schule – bedeutet besonderen Stress für Kinder, die in ungewohnten Situationen unter Sprechangst (Logophobie) leiden oder verstummen (selektiver Mutismus). Die Ursachen dieser Redestörungen liegen in der Psyche.

Sprechen gehört zu den komplexesten Fähigkeiten, die Kinder im Vorschulalter erlernen. Manchen vergeht aber unter bestimmten Umständen die Lust auf verbale Kommunikation. Sie reagieren aus seelischen Gründen auf die Anforderung, vor anderen zu reden, mit einer krankhaften Sprechangst (Logophobie, Redeangst, Redehemmung) oder verstummen in als fremd oder bedrohlich empfundenen Situationen (selektiver Mutismus, psychogenes Schweigen).

Logophobie: mehr als nur Lampenfieber

Vor Publikum zu sprechen fällt selbst vielen Erwachsenen schwer. Bis zu einem gewissen Grad ist es ja auch normal, mit Anspannung und Unsicherheit zu reagieren, wenn man Rede und Antwort stehen soll. Nimmt die Furcht, kein Wort herauszubekommen, zu versagen und sich lächerlich zu machen aber überhand und treten bestimmte Verhaltensweisen in Redesituationen (z.B. Beantwortung einer Frage des Lehrers, Teambesprechungen, verbale Stellungnahmen, Gratulationen zu Festtagen u.a.m.) auf, liegt der Verdacht auf eine Logophobie (griech.: lógos = Rede, phóbos = Angst) nahe. Darunter versteht man eine seelisch bedingte krankhafte Sprechangst, die als isolierte Störung oder Begleiterscheinung diverser Sprach-, Sprech-, Rede- und Stimmstörungen (z.B. Stottern) auftritt. Sie geht häufig mit körperlichen Symptomen einher wie feuchten Händen, einem Kloß im Hals oder Herzrasen, Schweißausbrüchen, Erröten, Schwindel, Magen-Darm-Beschwerden u.a.m.

Typische Merkmale, die in Redesituationen bei Logophobikern auftreten sind z.B. eine verzögerte Wortfindung bis hin zu Sprechblockaden, ein zu hohes Sprechtempo, eine monotone Sprachmelodie, eine erhöhte Atemfrequenz oder Luftschnappen sowie eine veränderte Mimik (z.B. starrer Gesichtsausdruck oder Grimassieren) und Gestik (z.B. Zittern, fahrige Bewegungen, von einem Fuß auf den anderen treten).

Nicht selten reagieren Betroffene auf die Sprechangst mit einer Vermeidungstaktik. Andere wieder versuchen, durch übertriebenen Perfektionismus (z.B.  besonders intensive Vorbereitungen einer Rede) der Lage Herr zu werden. Kinder haben es da schwerer, da es ihnen noch an entsprechenden Bewältigungsstrategien mangelt. Zudem treffen Phobien (übertriebene Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation) im sozialen Umfeld selten auf das nötige Verständnis.

Eine spezifische Therapie der Logophobie gibt es bislang nicht. Versucht werden können logopädische Interventionen, wie sie bei anderen Redestörungen angewendet werden oder psychologische bzw. psychotherapeutische (z.B. Verhaltenstherapie) Verfahren zur Stärkung des Selbstbewusstseins.

Selektiver Mutismus: plötzlich stumm

Eigentlich reden Kinder mit dieser Form des Mutismus (lat.: mutus = stumm) wie alle “normalen“ Altersgenossen, verfügen sie doch in der Regel über eine altersgerecht entwickelte Sprachkompetenz. Diese kommt aber nicht in allen Situationen zum Tragen. Charakteristischerweise sprechen diese Kinder meist in vertrauter Umgebung, also daheim und in ihrem Freundeskreis, verstummen aber gegenüber Fremden bzw. in unbekannten Situationen (z.B. Eintritt in den Kindergarten oder die Schule, Kirchen- oder Arztbesuch etc.). Werden sie angesprochen, reagieren sie mit freezing (erstarrte Mimik und Gestik), zu Boden gesenktem Kopf und Abwendung vom Gesprächspartner. Sie unterdrücken sogar Geräusche wie z.B. Husten.

Neben dieser emotional bedingten Selektivität des Sprechens zeigen Kinder mit psychogenem Schweigen oft noch andere Besonderheiten in ihrem Verhalten wie z.B. eine Tendenz, sich zurückzuziehen oder eine Neigung zu Widerstand u.a.m. Begleitend können auch Angststörungen, Tics, eine Enuresis (Einnässen) oder Enkopresis (Einkoten) auftreten.

Etwa zwei bis drei von 1.000 Schulkindern sollen von dieser Störung betroffen sein, Mädchen deutlich häufiger als Buben. Als Auslöser betrachten Experten Sprechangst, Hilflosigkeits-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühle, manchmal auch traumatische Erfahrungen (z.B. Missbrauch). Eine gewisse genetische Prädisposition (Schüchternheit und Gehemmtheit oder auch Depressionen bei mindestens einem Elternteil) scheint ebenfalls eine Rolle zu spielen. Ebenso die Herkunft. So kann für Kinder von Einwanderern die Sprachverweigerung (sog. elektiver Migranten-Mutismus) der scheinbar einzig mögliche Ausweg sein, auf Schwierigkeiten ihrer Familie, fern von der Heimat eine neue Identität zu finden, zu reagieren.

Typisch für ein mutistisches Kind ist:

•    Es kann sich im Alltag altersgemäß ausdrücken und sprechen.
•    Es verfügt über ein altersgerechtes Sprachverständnis.
•    Es zeigt seit mindestens vier Wochen Unterschiede in seinem kommunikativen Verhalten: In bestimmten Situationen tritt es als Schweiger, in anderen redselig auf.
•    Es gibt Situationen, in denen sich sein Schweigen voraussagen lässt.
•    Es leidet nicht unter einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung.

Therapie: wichtig für die emotionale Entwicklung

Die oft als Schüchternheit oder Trotzreaktion verkannte Störung ist behandelbar – sofern sie früh diagnostiziert wird, was nicht immer ganz einfach ist. Denn häufig unterliegt die Umgebung dem Irrglauben, das Problem “wachse sich aus“. Zudem fallen mutistische Kinder gerade in der Schule oft eher angenehm auf, weil sie nicht vorlaut sind. So bekommt die schwerwiegende Kommunikationsstörung fälschlicherweise gern das Etikett “wohlerzogen“ – und bleibt unentdeckt. Denn die betroffenen Kinder entwickeln häufig Strategien, den Mutismus zu kaschieren, etwa indem sie befreundete Klassenkameraden zu ihrem Sprachrohr machen.

Die scheinbare Normalität hat aber ihren Preis. Der Mangel an aktiver Kommunikation behindert eine altersgerechte Identitätsbildung, ist über sich selbst erzählen können doch eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Erinnerungen sowie die Bewusstwerdung der eigenen Lebensgeschichte. Grund genug, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wobei Eltern und Lehrer in den Prozess miteinbezogen werden sollten.

Behutsam das Schweigen brechen helfen PsychotherapeutInnen, VerhaltenstherapeutInnen, KinderpsychiaterInnen und auf Mutismus spezialisierte LogopädInnen (SprachtherapeutInnen). Musik-, Ergo- oder Reittherapien können die Behandlung unterstützen.

 

Weiterführende Informationen:

Checkliste zum Thema Redeangst

Weitere Informationen zu Logopädie und Logopäden in Österreich

 

Lesen Sie auch aus unserer Spezialserie „Kindergesundheit“:

Gesunde Schuljause: Gute Ideen für leckere Rezepte

Schulangst hat viele Gesichter

Kinderkrankheiten: Ausschlag als häufiges Leitsymptom

Stottern, Poltern und Stammeln: Redestörungen als Kommunikationshindernis

Legasthenie und Dyskalkulie: Wenn Buchstaben oder Zahlen stressen