Schmerzgedächtnis macht aus akuten Schmerzen chronische

©panthermedia.net, Tomas Anderson

Werden Schmerzen unzureichend behandelt, können sich bleibende Veränderungen im zentralen Nervensystem – genannt Schmerzgedächtnis – entwickeln. Das lässt sich durch adäquate Therapien verhindern, wahrscheinlich aber auch löschen.

Als “ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.”, definiert die internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP: International Association for the Study of Pain) eine unliebsame Empfindung, die wir (fast) alle kennen: Schmerz. Er signalisiert, dass im Organismus “etwas nicht in Ordnung ist“, etwa weil eine Gewalteinwirkung (z.B. Schnitt, Verbrennung) oder ein krankhafter Vorgang (z.B. Entzündung) stattfindet. Dabei handelt es sich zunächst um akuten Schmerz. Wird er nicht rechtzeitig und ausreichend therapiert, entwickelt er sich zum chronischen Schmerz (Dauerschmerz), der auch nach Verschwinden des Schmerzauslösers andauert. Eine entscheidende Rolle bei diesem Prozess spielt das sogenannte Schmerzgedächtnis.

Schmerz verändert das Gehirn

Auf diesen einfachen Nenner lässt sich bringen, was passieren kann, wenn jemand wiederholt der Erfahrung “Schmerz“ ausgesetzt ist. Denn Schmerzreize beeinflussen die für ihre Weiterleitung zuständigen Nervenfasern. Genauer gesagt deren Biochemie. Diese zum Hinterhorn des Rückenmarks verlaufenden Ad- oder C-Fasern schütten nach Einwirkung eines Schmerzreizes den Neurotransmitter Glutamat aus. Der Botenstoff leitet kurzfristig die Information “Schmerzreiz“ über Rezeptoren an den Synapsen (Kontaktstellen der Nervenzellen) weiter bis zum Gehirn, wo schließlich der Sinneseindruck “Schmerz“ registriert wird.

Starke Schmerzreize setzen große Mengen an Glutamat im Rückenmark frei, wodurch aus einer normalerweise kurz dauernden Erregung lang anhaltende Veränderungen im Nervensystem resultieren können. Nämlich durch Aktivierung von NMDA (N-methyl-D-aspartat) – Glutamatrezeptoren, die auch für Calcium durchlässige Kanäle bilden. Bindet Glutamat an diese Rezeptoren und befinden sich die Nervenzellen, in deren Membran diese Rezeptoren sitzen, in Depolarisation (starke Erregung), wird die durch Magnesium bewirkte Blockade der NMDA-Rezeptorkanäle aufgehoben. Dann strömen Calciumionen durch diese Kanäle ins Hinterhorn und sorgen für spezifische Veränderungen im Zellstoffwechsel (z.B. Aktivierung bestimmter Enzyme bzw. Gene). Beispielsweise eine Phosphorylierung von AMPA (α-amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid) – Glutamatrezeptoren, die die Erregungsüberleitung an den Synapsen der Schmerzbahnen potenzieren.

In der Folge kommt es auch zu funktionellen (z.B. verminderte Zahl der Neurone, die hemmende Neurotransmitter nutzen) und morphologischen Veränderungen (z.B. Zelluntergang) unserer “Schaltzentrale“.

Schmerzgedächtnis intensiviert Schmerzempfinden

Diese Eigenschaft zerebraler Nervenzellstrukturen, sich infolge starker bzw. rezidivierender (wiederkehrender) Schmerzen dauerhaft zu verändern, nennt man Schmerzgedächtnis. Verfügt das Gehirn (Zerebrum) erst mal über ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen in puncto Schmerz, genügen bereits minimale Schmerzreize zu seiner Aktivierung. Es entwickelt sich eine krankhaft übersteigerte Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) bis hin zu einer Schmerzauslösung durch normalerweise nicht schmerzhafte Reize (Allodynie) oder sogar Spontanschmerzen. Die einzige Möglichkeit, dieser unvorteilhaften Entwicklung Einhalt zu gebieten ist, durch eine vorausschauende und adäquate Schmerztherapie die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses zu unterbinden.

Chronische Schmerzen verändern die Psyche

Bei chronischen Schmerzpatienten sorgen Schmerzreize also für eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Und zwar ohne dass sich ein Gewöhnungseffekt einstellt. Im Gegenteil. Mit der Zeit reichen schon geringe Reize, um überproportional Schmerz auszulösen. Hier kann auch eine gewisse Konditionierung, d.h. ein erlerntes Schmerzverhalten und –empfinden eine Rolle spielen. Das bedeutet: Vorangegangene Erfahrungen mit Schmerzauslösern bedingen, dass bereits die Erwartung solcher Auslöser imstande ist, Schmerzen zu bereiten. Der Schmerz wird quasi vorweggenommen, was mit Angst und einer hohen Muskelspannung, die ihrerseits Schmerz bewirkt, einhergehen kann. Der Schmerz wird somit auf mehrfache Weise verstärkt.
Als besonders negativ und angstbesetzt wird unvorhersehbarer Schmerz, wie er z.B. bei bestimmten, in Schüben verlaufenden Krankheiten (z.B. Rheuma) vorkommt, erlebt. Sein Auftreten entzieht sich der Kontrolle, was ein Gefühl der Hilflosigkeit und schließlich Depressionen verursachen kann. Letztere beeinträchtigen wiederum etwaige Bemühungen zur Erlangung der Kontrolle über den Schmerz. So verselbstständigen sich Schmerzempfindungen und bleiben aufrecht, selbst wenn kein organischer Grund mehr Anlass dazu gibt.

Einziger Ausweg: aktive Schmerzbewältigung

An und für sich verfügt der Organismus über eine körpereigene Schmerzabwehr. So werden bei Schmerzen bestimmte Stoffe (z.B. Endorphine) freigesetzt, die schmerzlindernd wirken. Sie reichen aber nicht aus, jeden Schmerz zu unterdrücken. Deshalb kommen zwecks adäquater Schmerztherapie Analgetika (Schmerzmittel) oder auch Lokalanästhetika (örtliche Betäubung) zum Einsatz. Sie verhindern die oben beschriebene Langzeitpotenzierung der Synapsen im Rückenmark.

Vor allem Opioide hemmen die Weiterleitung von Schmerzreizen und vermeiden so die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses, denn sie verringern die Glutamatfreisetzung. Werden sie kurzzeitig hochdosiert angewendet, könnten sie Wiener Forschern zufolge sogar eine Form des Schmerzgedächtnisses bei bestimmten chronischen Schmerzzuständen “löschen“.

Hat sich bereits eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit eingestellt, sollen sogenannte Gegenirritationsverfahren diese zumindest zeitweise normalisieren. Dabei werden bewusst Reize (z.B. elektrische Impulse) gesetzt, die die Schmerzleitbahnen “vom Ort des Geschehens ablenken“ sollen. Ziel ist eine Erhöhung der Schmerzschwelle. Eine solche Methode ist die TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation).

Da bei der Schmerzempfindung auch psychische Komponenten mitspielen, können auch psychotherapeutische Interventionen wie z.B. eine Verhaltenstherapie helfen.

Wichtig für eine erfolgreiche Schmerztherapie ist – unabhängig von der Methode – auf jeden Fall, dass der Schmerzgeplagte die Möglichkeit bekommt (z.B. Auswahl der Arznei) respektive selbst Strategien (z.B. Bewegung, Entspannungsübungen) entwickelt, den Schmerz aktiv zu kontrollieren

Ebenso dafür von Bedeutung sind adäquate Qualifikationen der SchmerztherapeutInnen und Ausstattung entsprechender Einrichtungen wie z.B. Schmerzambulanzen.

 

Weiterführende Links:

Österreichische Schmerzgesellschaft
Pain Research Forum

 

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