Klinefelter, Turner & Co.: Wie sich Anomalien der Geschlechtschromosomen zeigen

Es scheint ganz einfach: Besitzt jemand bei seinen Geschlechtschromosomen die Konstellation XY, handelt es sich um einen Mann. XX ist das genetische Merkmal einer Frau. Doch es gibt auch Menschen mit nur einem Gonosom oder gleich mehreren X- oder Y-Chromosomen. Was das für Folgen hat, lesen Sie hier.
Welche Eigenschaften ein Lebewesen besitzt, das bestimmt weitgehend seine Erbmasse, die in den 46 Chromosomen, die in 23 Paaren vorliegen, im Kern der Körperzellen sitzt. Zwei der Chromosomen, die sogenannten Gonosomen (Geschlechtschromosomen), legen fest, welchem Geschlecht ihr Träger angehört (XX = weiblich, XY = männlich). Manchmal kommt es bei der Entstehung neuen Lebens zu Fehlverteilungen von Chromosomen, sodass z.B. ein bestimmtes Chromosom fehlt (Monosomie) oder dreifach (Trisomie) statt doppelt vorhanden ist.
Je nachdem, welches Chromosom davon betroffen ist, handelt es sich entweder um eine nicht lebensfähige Veränderung und es kommt zum Abort. Oder die genetische Anomalie führt zu Fehlbildungen und Funktionsstörungen. Die Geschlechtschromosomen bilden insofern eine Ausnahme, als hier zahlenmäßige Abweichungen (numerische Aberrationen) meist gut mit dem Leben vereinbar sind und häufig keine allzu schwerwiegenden Krankheitsbilder bewirken. Deshalb sind sie in der Bevölkerung häufig zu finden. Oft wird aber nur bei Auffälligkeiten danach gesucht. Und die sind nicht immer vorhanden.
Klinefelter-Syndrom: Männer mit “X plus“
Männer mit einem Klinefelter-Syndrom (XXY-Syndrom) besitzen mehr als die normalerweise vorhandenen zwei Gonosomen XY und zwar mindestens ein zusätzliches X, also 47, XXY, seltener 48,XXXY oder 49,XXXXY. Entweder in allen Zellen oder nur in einem Teil (Mosaik, 46,XY/47,XXY). Das überschüssige X-Chromosom stört die Hodenfunktion und bewirkt dadurch einen Mangel an Testosteron (männliches Hormon). Das drückt sich in einer Beeinträchtigung der geschlechtlichen Entwicklung aus in Form eines fehlenden oder spärlichen Bartwuchses, einer kargen Körperbehaarung, Gynäkomastie (Ausformung weiblicher Brüste), einer Verkleinerung von Hoden und Penis sowie oft auch der Unmöglichkeit, Sperma zu produzieren und damit Unfruchtbarkeit. Die Pubertät setzt verspätet ein. Zudem dauert das Größenwachstum länger an, woraus eine überdurchschnittliche Körpergröße resultiert, und es besteht eine Muskelschwäche und Neigung zu Übergewichtigkeit. Auch ein Hodenhochstand, eine Skoliose (Seitwärtsverkrümmung der Wirbelsäule) und Zahnprobleme (z.B. Fehlstellungen) finden sich gehäuft. Verhaltensauffälligkeiten und Stimmungsschwankungen sowie verminderte intellektuelle Fähigkeit können ebenfalls vorkommen, v.a. Lern- und Sprachschwierigkeiten. Die Ausprägung der Symptome schwankt stark von Fall zu Fall, steigt aber mit der Zahl der überzähligen X-Chromosomen.
Das Syndrom wird oft erst in der Pubertät auffällig. Dann zeigt ein Hormonstatus ein Zuwenig an Testosteron und ein Zuviel an weiblichen Geschlechtshormonen. Eine Chromosomenanalyse beweist (auch schon vorgeburtlich durch eine Fruchtwasseruntersuchung) die genetische Grundlage des Syndroms.
Korrigieren lässt sich die angeborene Störung nicht, der Testosteronmangel und seine unerwünschten Folgen sind jedoch durch lebenslange Hormongabe therapierbar. Eine störende Gynäkomastie kann operativ beseitigt werden. Gegen die verminderte Fruchtbarkeit weiß oft die moderne Reproduktionsmedizin Rat. Zur Besserung ev. Sprachschwierigkeiten oder anderer Entwicklungsrückstände dienen Fördermaßnahmen, zur Hebung des aufgrund der “eingeschränkten“ Männlichkeit ev. angeschlagenen Selbstbewusstseins Selbsthilfegruppen oder eine psychotherapeutische Behandlung.
Ein ähnliches Krankheitsbild, das sogenannte Pseudo-Klinefelter-Syndrom, beruht auf einem Defekt der Leydig-Zwischenzellen in den Hoden, die normalerweise männliche Hormone produzieren, das aber bei dieser Störung nicht können. Der Karyotyp ist hier aber normal, also 46,XY.
XYY-Syndrom: genetische ”Supermänner”
Männer mit einem XYY-Syndrom (XYY Trisomie, Diplo-Mann-Syndrom, Supermaskulinitäts- Syndrom, Super-male-Syndrom, Supermann-Syndrom, Jacobs-Syndrom, Diplo-Y-Syndrom) besitzen mehr als die normalerweise vorhandenen zwei Gonosomen XY und zwar mindestens ein zusätzliches Y, also 47, XYY, viel seltener X- und Y-Polysomien. Als typisch für XYY-Männer gelten eine überdurchschnittliche Körpergröße und größere Hände und Füße sowie leicht vergröberte Gesichtsproportionen (z.B. plumpere Zähne und Ohren, prominenter Nasenrücken). Einige Untersuchungen sprechen für einen erhöhten Testosteronspiegel inklusive Folgen wie einer ausgeprägten Akne. Andere wollen eine Neigung zur Ausbildung eines Hodenhochstands, radioulnarer Synostosen (knöcherne Verbindung zwischen Elle und Speiche) und Herzfehlern sowie einer verstärkten Libido bei verringerter Potenz und Fruchtbarkeit gefunden haben. Auch wird den Supermales – wissenschaftlich allerdings unbewiesen – ein aufbrausendes Temperament mit kriminellen Tendenzen sowie eine etwas verminderte Intelligenz und Feinmotorik nachgesagt.
Triple-X-Syndrom: genetische “Superfrauen“
Frauen mit einem Triple-X-Syndrom (Super-Female-Syndrome, 3-X-Syndrom, Trisomie X, Triplo-X-Syndrome, Superfemale) besitzen mehr als die normalerweise vorhandenen zwei Gonosomen XX und zwar ein zusätzliches X, also 47, XXX. Entweder in allen Zellen oder nur in einem Teil (Mosaik, 46,XX/47,XXX). Viel seltener können auch mehrere überzählige X-Chromosomen (Poly-X-Syndrom) vorhanden sein, sodass ein Tetra-X-Syndrom (48,XXXX) oder Penta-X Syndrom (49,XXXXX) entsteht.
Die Auswirkungen des überschüssigen Genmaterials können so diskret sein, dass viele Poly-X-Frauen als solche unerkannt bleiben. Sie sind oft verhältnismäßig großwüchsig, können Störungen in der Feinmotorik oder Lernbehinderungen (“Spätentwickler“) aufweisen, eventuell auch eine Muskelhypotonie, Klinodaktylie (seitliche Abknickung von Finger- oder Zehengliedern), Fehlbildungen des Urogenitalsystems, zerebrale Krämpfe, psychische Probleme oder eine Ovarialinsuffizienz (premature ovarian failure, POF: eingeschränkte Funktion der Eierstöcke mit verminderter Hormonproduktion) mit u.U. etwas eingeschränkter Fruchtbarkeit und vorzeitiger Menopause. Interessanterweise geben Poly-X-Frauen entgegen aller Erwartungen ihre überzähligen X-Chromosomen kaum an ihre Nachkommen weiter, zeigen Untersuchungen.
Da überschüssige X-Chromosomen offenbar kaum grobe Folgen verursachen, werden sie meist nur bei bestimmten Gegebenheiten entdeckt wie im Rahmen einer aus anderen Gründen veranlassten Pränataldiagnostik (Fruchtwasser- oder Plazentauntersuchung) bzw. einer bei Entwicklungsverzögerungen oder unerfülltem Kinderwunsch durchgeführten genetische Analyse.
Eine kausale Therapie der angeborenen Anomalie gibt es nicht. So überhaupt notwendig können Entwicklungsverzögerungen durch Fördermaßnahmen positiv beeinflusst und Fruchtbarkeitsstörungen mit Hilfe der modernen Reproduktionsmedizin behandelt werden.
Ullrich-Turner-Syndrom: fast ganz weiblich
Das Ullrich-Turner-Syndrom (UTS, Turner-Syndrom, Monosomie X) geht mit einem ganzen (45, X) oder teilweisen (46, XXq- oder 46, XXp-) Verlust des zweiten Gonosoms einher, entweder in allen oder nur einem Teil der Körperzellen (Mosaik 45,X/46,XX oder 45,X/46, XY). Es handelt sich dabei um die einzige numerische Chromosomenaberration, die auch dann nicht zwangsläufig zum Absterben der Leibesfrucht führt, wenn das gesamte zweite Chromosom fehlt (X0). Auf jeden Fall entwickelt sich, da ja kein funktionsfähiger Hoden vorhanden ist, ein weibliches Äußeres. Abhängig von der fehlenden Erbgutmenge können in variabler Menge und Ausprägung Symptome entstehen wie
- ein Kleinwuchs
- Lymphödeme (Flüssigkeitsansammlungen) in den Extremitäten während der Kindheit
- ein Pterygium colli (flügelförmige Hautfalten beidseits am Hals), Faltennacken und tiefer Haaransatz am Nacken
- ein Hypertelorismus (weiter Augenabstand) und Epikanthus (Lidfalte am inneren Augenwinkel)
- ein schildförmig deformierter Brustkorb und kleine, weit auseinander stehende Brustwarzen
- ein Cubitus valgus (nach außen offener Winkel der Ellbogen mit Überstreckbarkeit der Ellbogengelenke)
- Streak-Gonaden (funktionsunfähige Eierstöcke bzw. Hoden) und daher eine mangelhafte Brustentwicklung und Entwicklung der weiblichen Körperformen, ein Ausbleiben der Monatsblutung und Unfruchtbarkeit sowie kindlich anmutende äußere Geschlechtsorgane
- ein enger hochbogiger Gaumen und eine Mikrognathie (Kleinheit des Oberkiefers)
- Nierenanomalien (z.B. Hufeisenniere) und Herzfehler (z.B. Aortenstenose = Einengung der Aorta)
- viele pigmentierte Muttermale, atypische Nägel (ragen an den Spitzen aufwärts), einzelne verkürzte Finger oder Zehen
- eine Ptosis (herabhängendes Oberlid) und Myopie (Kurzsichtigkeit)
- eine Otitis media chronica (Mittelohrentzündung; Risiko: spätere Hörprobleme)
- Schilddrüsenerkrankungen (z.B. Unterfunktion), Zuckerkrankheit, hoher Blutdruck
Da das fehlende X-Chromosom keine schwerwiegenden Folgen verursachen muss, wird ein Turner-Syndrom zum Teil erst bei bestimmten Gegebenheiten entdeckt wie im Rahmen einer aus anderen Gründen veranlassten Pränataldiagnostik (Fruchtwasser- oder Plazentauntersuchung) bzw. einer bei einem Kleinwuchs, ausgebliebenen Pubertätsentwicklung oder unerfülltem Kinderwunsch durchgeführten genetische Analyse.
Die angeborene Chromosomenstörung lässt sich weder beheben noch verhindern, aber ev. Auswirkungen kann man abmildern. Etwa durch die Gabe von Wachstumshormon und geringen Mengen von männlichen Hormonen zur Normalisierung der Körpergröße sowie Verabreichung von weiblichen Hormonen zur Ankurbelung der geschlechtlichen Entwicklung und Verhinderung einer Osteoporose. Kompressionsstrümpfe und Lymphdrainagen verringern die Lymphödeme.
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Datum: 10. Dezember 2014
Kategorien: Gesundheit allgemein