Absentismus versus Präsentismus: Flüchten oder standhalten

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Schneller, höher, stärker – dieses Motto sportlicher Wettkämpfe gilt inzwischen auch in der Arbeitswelt. Nicht alle kommen damit reibungslos zurecht. Manche begegnen der Situation mit Präsentismus (ständige Anwesenheit), andere mit Absentismus (vermehrte Abwesenheit). Beides schadet dem Betrieb – und der Gesundheit.

Der Konkurrenzdruck ist groß. Das Arbeitspensum wächst. Die Angst um den Arbeitsplatz auch. Deshalb sehen sich immer mehr Beschäftigte vor das Problem gestellt, wie sie mit den zunehmenden Anforderungen fertig werden sollen. Folge: Die einen kommen auch dann noch zur Arbeit, wenn sie krank sind. Die anderen halten dem Druck nicht stand und “flüchten“ in den Krankenstand. Also Präsentismus versus Absentismus. Eigentlich nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Denn beide tun weder der Gesundheit noch der Leistung gut, geschweige denn den Firmen oder Finanzen. Und auch die Arbeitskollegen können darunter leiden.

Präsentismus: Schuften bis zum Umfallen

Sie sind rund um die Uhr werkbereit, immer am Diensthandy erreichbar und schleppen sich auch noch krank zur Arbeit. Berufstätige, die versuchen, den wachsenden Druck am Arbeitsplatz durch ständigen Einsatz und Mehraufwand zu bewältigen. Doch warum setzen sie scheinbar so leichtfertig ihre Gesundheit aufs Spiel? Die Gründe sind vielfältig:

  • eine intensivere Ergebnis-Orientierung der Unternehmen und damit erhöhte Selbstverantwortung der Mitarbeiter
  • ein ausgedünnter Personalstand (“Stellvertreter-Sterben“)
  • die Solidarität mit den Kollegen, die man nicht im Stich lassen will
  • die Furcht vor beruflichen Nachteilen (z.B. Angst vor Entlassung oder ausbleibender Beförderung, erlebte Kündigung kranker Mitarbeiter)

Auch wenn kaum wissenschaftliche Erkenntnisse darüber existieren, welche konkreten gesundheitlichen Folgen es hat, wiederholt trotz Krankheit zu arbeiten, gibt es doch Hinweise, dass es nicht ohne Auswirkungen bleibt, Erkrankungen zu verschleppen statt sie auszukurieren sowie ihre adäquate Behandlung hinauszuzögern oder gar zu unterlassen. So besteht etwa ein Zusammenhang zwischen Präsentismus und späterer Langzeit-Arbeitsunfähigkeit sowie der Entwicklung ernster Herz-Kreislauf-Leiden. Bei Infektionen (z.B. Grippe) kann es zudem zu einer Ansteckung von Kollegen kommen, die dann ebenfalls ausfallen.

Bei den nicht oder unzureichend behandelten Gesundheitsproblemen handelt es sich in der Regel um chronische oder wiederkehrende (z.B. Allergien) Erkrankungen, chronische Schmerzen und – zunehmend – psychische Leiden (z.B. Depressionen, Angststörungen). Vor allem letztere werden gerne vor der Umwelt geheim gehalten, weil fehlende Akzeptanz und mangelndes Verständnis befürchtet wird.

Besonders in der Bau- und Landwirtschaft sowie in Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsberufen tritt das Phänomen Präsentismus häufig in Erscheinung.

Absentismus: Fernbleiben als Ausweg?

Fehlzeiten heißen in der Wirtschaftssoziologie Episoden der Nicht-Anwesenheit von Berufstätigen am Arbeitsplatz während der vertraglich vereinbarten Sollarbeitszeit. Nicht darunter fallen Urlaubstage oder mit dem Unternehmen vereinbarte Auszeiten (z.B. Sabbaticals, Sonderurlaube z.B. für Schulungen/Weiterbildungen etc.). Wohl aber Krankenstände und nicht gerechtfertigtes Wegbleiben (Absentismus, “Blaumachen“), wobei hier oft nur schwer eine Grenze zu ziehen ist.

Warum sich Mitarbeiter dazu entscheiden, absent (= nicht anwesend) zu sein, dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsmodelle. Eines davon nennt als Beweggrund einen zeitweiligen Rückzug von unzufrieden machenden, belastenden Seiten der Berufstätigkeit. Ein anderes sieht Absentismus als eine Art Gesundheitsverhalten, als Strategie zur Stressbewältigung bei – realer oder subjektiv erlebter – Beeinträchtigung der Gesundheit durch Einflüsse aus der Umgebung, denn Krankheit gilt in unserem Kulturkreis als akzeptierte Entschuldigung für das Wegbleiben vom Arbeitsplatz. Weitere Modelle ziehen als Ursachen für Absentismus ein abweichendes Verhalten mit dem Ziel, das System durch Verletzung seiner Regeln zu unterlaufen in Betracht oder eine versuchte Konfliktlösung in Form eines Sichentziehens aus der Kontrolle durch Führungskräfte. Auch zweckrationale Erwägungen (Kosten-Nutzen-Überlegungen) unter vorrangiger Beachtung der Eigeninteressen könnten eine Rolle spielen.

Ökonomische Auswirkungen

Dass Fehlzeiten Kosten verursachen, ist klar: Für Krankgeschriebene werden weiterhin Lohn- und Gehaltsfortzahlungen geleistet. Ihre Arbeit müssen andere übernehmen und dafür womöglich bezahlte Überstunden machen. Auch organisatorisch wird oft ein Mehraufwand (Neueinteilung von Diensten oder Schichten, Einarbeitung von Mitarbeitern in die Materie, Einstellung von Ersatzkräften) erforderlich, was ebenfalls finanziell zu Buche schlägt (z.B. langsameres Vorankommen mit den eigenen Aufgaben, weil die Einschulung eines Kollegen Zeit benötigt). Schließlich kann es auch zu sogenannten Leerkosten aufgrund einer mangelnder Ausnutzung der Produktionsmaschinerie kommen.

Doch auch das “Ackern bis der Arzt kommt“ hat im wahrsten Sinn des Wortes seinen Preis, denn dass jemand nie oder wenig am Arbeitsplatz fehlt, heißt noch lange nicht, dass er auch viel leistet. So ergeben Forschungen zu betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten von Präsentismus deutliche finanzielle Belastungen für Unternehmen, in denen Beschäftigte krank zur Arbeit erscheinen. Warum? Weil die Produktivität leidet, wenn Mitarbeiter krankheitsbedingt in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Denn wer sich nicht voll konzentrieren kann, macht mehr Fehler, arbeitet langsamer und braucht mehr Pausen. Das Risiko für Arbeitsunfälle steigt. Nicht zuletzt können kaum auskurierte Krankheiten zu einer späteren längeren Krankschreibung oder sogar bleibenden Arbeitsunfähigkeit führen.

Wer nun glaubt, dass Mitarbeiter, die Fehlzeiten aufweisen, mehr Unheil anrichten als solche, die sich auch mit Fieber oder Schmerzen zur Arbeit schleppen, der irrt. Denn verschiedene Untersuchungen zu dem Thema ergeben das Gegenteil: Letztendlich kommt Präsentismus den Unternehmen deutlich teurer zu stehen als Krankenstände. Offenbar übersteigen die Kosten krankheitsbedingter Einschränkungen der Arbeitsleistung jene des Absentismus. 10–15 % der Gesamtproduktivität sollen aufgrund der beiden Phänomene verloren gehen, davon zwei Drittel durch Präsentismus und ein Drittel durch Absentismus.

Betriebliches Gesundheitsmanagement: Win-Win-Situation für alle

Ein Lob der “schöpferischen Faulheit“ also? Mitnichten. Denn ebenso wie Präsentismus ist auch Absentismus häufig Zeichen, dass es in der Betriebsstruktur hakt. Das verbessert sich nicht, indem ein Unternehmen lediglich (vermutlich) säumige Arbeitnehmer abstraft, etwa durch verstärkte (betriebs)ärztliche Kontrollen, Abmahnungen oder gar Kündigungen.

Eine konstruktive Methode der Problemlösung besteht in der fachmännischen Anfertigung einer unternehmensspezifischen Analyse, die auch die häufigsten Gesundheitsprobleme der Mitarbeiter und ihre Auswirkungen auf die Produktivität aufdeckt. Sie hilft, Maßnahmen zur effektiveren und mitarbeitergerechteren Arbeits- und Organisationsgestaltung sowie zum gezielten Management der Gesundheitsprobleme zu entwickeln. Letzteres nennt man Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) oder Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM).

 

Weiter führende Links:
Präsentismus: Ein Review zum Stand der Forschung 
Betriebliche Gesundheitsförderung 

Link zu unserem Lexikon:
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