Hungern: wie extreme Unterernährung dem Körper schadet
Hunger definiert so manches Lexikon als Abwesenheit von Sattheit. Für Millionen von Unterernährten vor allem in der dritten Welt ist es weit mehr: ein qualvoller und lebensbedrohlicher Zustand, dem sie kaum entrinnen können. Verhungern läuft nämlich in mehreren Stadien ab. Und mit vielen schrecklichen Begleiterscheinungen.
Eigentlich gäbe es für alle Menschen genug zu essen auf der Welt. Dennoch (ver)hungern immer wieder Millionen Erdenbürger und das schon seit Jahrhunderten. Naturkatastrophen, Kriege, Misswirtschaft, Verteilungsungerechtigkeiten und andere Unbilden sorgen für einen Mangel an verfügbaren Nahrungsmitteln und damit Unterernährung, die im Hungertod gipfeln kann. Von dieser schwersten Form quantitativer Mangelernährung betroffen sind in erster Linie Bewohner der Entwicklungsländer. Deutlich seltener wird freiwillig und bewusst gehungert – etwa zum Erreichen gesundheitlicher (Fasten) oder sozialpolitischer (Hungerstreik) Ziele. Auf jeden Fall bedeutet längeres Hungern für den Organismus eine schwere Stresssituation, die eine Reihe übler Folgen nach sich zieht.
Hungrig oder satt
Die Empfindung “Hunger“, d.h. ein allgemeines Verlangen nach Nahrung entsteht im Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns) und limbischen System des Gehirns. Oft in Verbindung mit Sensationen im Magen-Darm-Trakt wie einer Leerperistaltik (Darmbewegungen trotz fehlender Darmfüllung), Magenschmerzen, ev. sogar Magenkrämpfen (sog. Hungerkontraktionen). Erfolgt eine Nahrungsaufnahme, erhält der Hypothalamus – abhängig vom Umfang der Mahlzeit – Sättigungssignale. Lassen diese schließlich nach, entwickelt sich wieder ein Hungergefühl. An der Registrierung von Hunger und Sattheit beteiligt sind eine Reihe an Neuropeptiden und Neurotransmittern (Botenstoffe) im Hypothalamus.
Der Körper zapft sich selbst an
Fehlt es tagelang an der notwendigen Zufuhr ausreichender Mengen an Nahrungsmitteln, kommt es im Stoffwechsel zu drastischen Veränderungen (“Hungerstoffwechsel“) mit der Verlangsamung von Stoffwechselvorgängen, Senkung des Grundumsatzes (Energiebedarf zur Erhaltung aller lebensnotwendigen Funktionen) und Bevorzugung kataboler (abbauender) Prozesse zur Deckung des Energiebedarfs der lebenswichtigen Organe (v.a. Hirn, Herz). Dabei greift der Körper zuallererst auf seine Vorräte an Kohlenhydraten (v.a. Leberglykogen: Umwandlung in Traubenzucker) zurück. Sind diese aufgebraucht, zieht er sein Depotfett (v.a. Unterhautfettgewebe) und Proteine (v.a. Skelettmuskulatur) zur Energiegewinnung heran. Denn das Gehirn kann nur wenige Energieträger wie Glukose oder Ketonkörper (Aceton, Acetessigsäure, β-Hydroxybuttersäure) verwerten, die aus den beim Fettabbau freigesetzten Fettsäuren und Glycerin sowie beim Abbau von Muskelproteinen anfallenden Aminosäuren erzeugt werden (Gluconeogenese, Ketogenese). Dass diese Prozesse, die – ähnlich wie bei einer schweren unbehandelten Zuckerkrankheit – mit einer Ansäuerung (metabolische Azidose, Hungerazidose) einhergehen im Gange sind, verrät der typische Geruch nach Aceton (Diät-Halitose) bzw. lassen sich Ketonkörper in Blut und Harn nachweisen.
Unterernährung schwächt den ganzen Organismus
Während einer Fastenperiode findet eine gewisse Anpassung an den Nährstoffmangel statt (Hungeradaption) durch Drosselung des Stoffwechselumsatzes, Verringerung des Glukoseverbrauchs des Gehirns. Außerdem ein Absinken von Herzfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur ähnlich wie beim Winterschlaf von Tieren. Bei längerem Fasten wird auch zum Schutz der Organe der Proteinabbau eingeschränkt.
Auf längere Sicht bleibt der Abbau körpereigener Strukturen (“Selbstkannibalismus“) bei Unterernährung jedoch nicht ohne Folgen. Eine davon heißt Gewichtsverlust. Eine weitere lautet Organschäden. So kommt es etwa infolge des Eiweißkatabolismus zu krankhaften Veränderungen der Knochen (Hungerosteoporose) und einem Muskelschwund. Außerdem sorgt der Proteinmangel (v.a. an Albumin) im Blut für eine Ansammlung eiweißarmer Flüssigkeit im Unterhautgewebe (Hungerödeme) sowie einen Aszites (Bauchwassersucht, “Hungerbauch“). Das Fehlen unterschiedlicher Nährstoffe (Proteine, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralstoffe, Spürenelemente) bedingt weitere mögliche Folgen der Hungerkrankheit wie
- Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Schwäche, Apathie
- einen Marasmus (Auszehrung)
- eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen (z.B. Tuberkulose), einen Wurmbefall (Spulwürmer)
- einen Blähbauch infolge einer bakteriellen Fehlbesiedelung des Darms
- eine Hepatosplenomegalie (Vergrößerung von Leber und Milz)
- hormonelle Störungen & Folgen wie z.B. Ausbleiben der Regelblutung, herabgesetzte Fruchtbarkeit
- Reizbarkeit, depressive Verstimmungen
- eine Blutarmut mit Blässe, Schwindel, Atembeschwerden, eine erhöhte Blutungsneigung durch einen Blutplättchenmangel
- Unterzuckerungen: bei starker Ausprägung verbunden mit abnehmender Hirnleistung, Spasmen und unkontrollierten Bewegungen bis hin zum Koma
- Hauttrockenheit, -verfärbungen und -ausfall, sprödes Haar und brüchige, gerillte und gefleckte Nägel, eine verzögerte Wundheilung
- Sehstörungen, Nachtblindheit
- schmerzhafte, geschwollene Läsionen an den Schleimhäuten, Zahnfleisch- und Mundschleimhautentzündungen, Mundwinkelrhagaden
- ein Versiegen der Tränen- und Speichelsekretion
- Herzrhythmusstörungen (z.B. Bradykardie), eine Herzschwäche
- u.U. anhaltenden Durchfall oder eine langfristige Verstopfung
- bei Kindern auch einen Minderwuchs, Wachstums- und Entwicklungsverzögerungen, eine geistige Retardierung und Verhaltensauffälligkeiten sowie ein greisenähnliches Aussehen
Selbst wenn eine Hungerperiode überlebt wird, ist noch nicht alles ausgestanden. Denn einige Folgen längeren Nahrungsentzugs wie z.B. kindliche Reifungsstörungen sind kaum wiedergutzumachen. Zudem birgt der dann eintretende Heißhunger Gefahren in sich, wenn man ihm nicht mit einem kontrollierten und vorsichtigen Kostaufbau mit häufigen kleinen Mahlzeiten aus leicht verdaulichen Nahrungsmitteln begegnet. Denn eine Überfüllung des inzwischen funktionsgeschwächten Verdauungskanals kann zu schweren bis tödlich verlaufenden Störungen führen.
Supergau Hungertod
Wie lange ein gesunder Mensch Hunger zu ertragen vermag, darüber gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben. Dort ist von bis zu 200 Tagen (wohl eher die Ausnahme) die Rede. Die Zeitspanne dürfte sehr unterschiedlich sein, wird sie doch beeinflusst vom Ernährungszustand des Hungernden, seiner Wasseraufnahme (verlängert das Durchhaltevermögen), Stoffwechselintensität und der Umgebungstemperatur. Menschen mit Fettreserven sind dabei wohl im Vorteil, denn jedes Kilogramm Körperfett (= Energievorrat) beinhaltet einen physiologischen Brennwert von 7.000 Kilokalorien.
Der Hungertod tritt ein wenn die Wärmeproduktion, das Herz-Kreislauf-System, die Atmung, Nieren oder Verdauungsfunktion versagen. Das ist in der Regel der Fall, wenn ein Drittel bis die Hälfte aller Körperproteine abgebaut ist.
Links zu unserem Lexikon:
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Anorexie: Dünn sein um jeden Preis
Datum: 30. Oktober 2015
Kategorien: Ernährung & Fitness